Auszug aus der Eisenbahn-Revue International 8-9/2021, S. 461-463, Autor: Dr. Martin Vieregg

Historische Entwicklung und Idee des Integralen Taktfahrplans

Seit Beginn der ICE-Planung wurde von kritischen Verkehrsplanern bemängelt, dass der mit hohem Einsatz von Steuergeldern erzielte Fahrzeitnutzen von Neubaustrecken nur wenig auf das restliche Streckennetz ausstrahlt und ein Teil der erzielten Fahrzeitgewinne durch lange Wartezeiten auf Anschlusszüge wieder verloren ginge. Um diesem Problem entgegen zu wirken wurde in den 1970er Jahren der Integrale Taktfahrplan (ITF) erstmals in den Niederlanden angewendet. Die Idee: Es wird zuerst ein Fahrplan nach dem Kriterium möglichst kurzer Umsteigezeiten entworfen und dann wird ermittelt, welche Baumaßnahmen erforderlich sind, um den Fahrplan umsetzen zu können, und zwar sowohl hinsichtlich der sogenannten Kantenfahrzeiten als auch hinsichtlich der Kapazität.

Kantenfahrzeiten und Knotenbahnhöfe

Bei den Kantenfahrzeiten geht es darum, dass die Fahrzeiten der Züge zwischen zwei benachbarten Taktknoten immer ein Vielfaches einer halben Stunde abzüglich der jeweils hälftigen Haltezeit am Start- und Zielbahnhof betragen, also zum Beispiel 28, 58 oder 88 Minuten, wenn die Haltezeit am Start- und Zielbahnhof jeweils zwei Minuten beträgt. Die Fahrzeiten gelten jedoch nur für Fernzüge da in den Bahnhöfen die umsteigenden Fahrgäste gewisse Wege zurückzulegen haben, müssen die Nahverkehrszüge schon einige Minuten vor den Fernzügen ankommen und können auch erst einige Minuten später als die Fernzüge abfahren. Vor allem im Bereich der Knoten ergeben sich durch die Häufung der Zugfahrten um die Knotenzeit herum hohe Anforderungen an die Infrastruktur bezüglich der Kapazität: Für jede Relation muss ein eigenes Bahnsteiggleis vorhanden sein und die Zulaufstrecken müssen konfliktfrei in den Knotenbahnhof führen. Ein ITF bedeutet dabei nicht, dass zwangsläufig alle Fernzüge im integralen Takt fahren müssen. Verkehren in derselben Relation mehr als halbstündlich Fernzüge, dann können die Fahrplananlagen dieser zusätzlichen Züge abseits der Knotenzeiten gelegt werden und es lassen sich Relationen direkt bedienen, die sonst nur mit Umsteigen angeboten werden. Diese zusätzlichen Züge werden dann von den Fahrgästen genutzt, die nicht auf die entsprechenden Anschlusszüge angewiesen sind.

Deutschlandtakt als Planungsziel

Rund zwei Jahre nach Verabschiedung des neuen Bundesverkehrswegeplan (BVWP) 2030 verkündete im Oktober 2018 der deutsche Verkehrsminister Andreas Scheuer eine Neuorientierung im Schienenverkehr: der ITF wurde unter dem Namen „Deutschlandtakt“ zum Planungsziel erhoben. Zur Umsetzung der erforderlichen Änderungen soll der bislang unflexibel gehandhabte BVWP nun regelmäßig Updates erhalten. Unter http://www.bvwp-projekte.de können die aktuellen Projektstände eingesehen werden.

Fahrzeiten richtig berechnet?

Ein ITF für Deutschland ist ein gewaltiges Vorhaben, das nicht kurzfristig umgesetzt, aber auch nicht ad hoc geplant werden kann. Es ist deshalb die Frage von Interesse: „Wie viel Integraler Taktfahrplan steckt im Deutschlandtakt?“ Um einen integralen Taktknoten zu schaffen, müssen die Taktfahrzeiten der zulaufenden Strecken passen. Einzelne im Dritten Entwurf unterstellte Fahrzeiten machen jedoch den Eindruck, dass es sich nur um grobe Schätzungen oder um veraltete Werte handelt, zum Beispiel zwischen München und Salzburg. Hier sind schon beschlossene Beschleunigungen der geplanten Ausbaustrecke zwischen München und Mühldorf (Anhebung von bislang 160 km/h auf 200 km/h) noch nicht im Fahrplan umgesetzt. Auch kann die Höhe der Fahrplanzuschläge im Einzelfall „ein bisschen“ flexibler gehandhabt werden: Wenn eine Strecke nur einen einzigen höchstrangigen Zug pro Stunde hat, dabei aber relativ schwach ausgelastet ist, kann man den Fahrzeitzuschlag, der meist zwischen 10 und 15 % liegt, für diesen einen Zug etwas reduzieren. So erscheint beispielsweise zwischen Karlsruhe und Kehl die angegebene Fahrzeit von 35 Minuten relativ lang, zumal im Bundesverkehrswegeplan der Neubau der Kurve bei Appenweier für 180 km/h unterstellt ist.

Der ITF zwischen Paris und Salzburg

In einigen Bereichen sind zur Umsetzung eines ITF auch erhebliche Baumaßnahmen notwendig, so beispielsweise zwischen München und Salzburg. Hier existieren zwei Bahnstrecken: Die zweigleisige elektrifizierte Hauptstrecke über Rosenheim ist sehr kurvenreich, da sie sich durch das Alpenvorland windet. Die nördliche Route über Mühldorf ist nicht elektrifiziert, weitgehend nur eingleisig und eignet sich viel besser für den Ausbau für hohe Geschwindigkeiten, da sie bereits zu zirka 85 % geradlinig verläuft. Im Jahr 2018 wurde die Planung zumindest im Abschnitt München – Mühldorf (im noch eingleisigen Abschnitt Markt Schwaben – Ampfing) von 160 auf 200 km/h hochgestuft, und es ist jetzt ein durchgehend zweigleisiger Ausbau vorgesehen. Mit dieser Hochstufung wird eine fahrplanmäßige Fahrtzeit zwischen München Hbf und Salzburg Hbf von 69 Minuten erzielt, und somit wird die ITF-konforme Fahrzeit um elf Minuten verfehlt. Dies hat den […] Effekt, dass die gesamte West-Ost-Strecke von Stuttgart über München bis Salzburg aus dem Raster des ITF herausfällt. Besonders für München ist das sehr schade, weil im riesigen Münchner Hauptbahnhof mit 32 Kopfgleisen und seinen zahlreichen Zulaufgleisen – fast jede Strecke hat ihre eigenen Gleise bis zum Prellbock – ein großer Taktknoten gut umsetzbar wäre: Man müsste nur zusätzliche Fußgängerverbindungen zwischen den Bahnsteigen schaffen, damit die umsteigenden Fahrgäste nicht bis ganz vor zum Querbahnsteig und dann wieder zurücklaufen müssen. Da die Österreichische Bundesbahnen ihren strengen Taktknoten zur Minute 0 in Salzburg nicht aufgeben können, kippt der Bahnknoten München mit 69 Minuten Fahrzeit Salzburg – München aus dem üblichen ITF-Raster heraus. Das BMVI kommentiert diesen Torso lapidar: „München ist hingegen kein idealer Taktknoten […] Eine kürzere Kantenzeit zwischen München und Salzburg ist daher nicht notwendigerweise ableitbar.“ (Schreiben des BMVI vom 25. Januar 2021 an die Vieregg-Rössler GmbH, Aktenzeichen E13/532.4/2).

Um für halb Süddeutschland einen ITF-Torso zu vermeiden, führt somit an einer Kantenfahrzeit München-Salzburg von einer Stunde kein Weg vorbei. Nach eigenen Fahrsimulationsrechnungen lassen sich die erforderlichen elf Minuten Fahrzeitverkürzungen durch ein Bündel kleinerer Maßnahmen erzielen, wobei die wichtigste Teilmaßnahme die Anhebung der Höchstgeschwindigkeit zwischen Tüssling und Freilassing auf bis zu 230 km/h ist, während dort bislang nur 130 bis 160 km/h vorgesehen sind. Es sind lediglich an zwei Stellen vollständige Neutrassierungen mit 4,5 und 3 km Länge erforderlich, außerdem eine kleinere Abrückung von der bestehenden Trasse, wobei sich der Abstand zwischen Bahngleis und Bebauung jeweils erhöht. Wegen des Problems der Bahnübergänge, dass nach der deutschen Gesetzeslage erst bei Geschwindigkeiten von 200 km/h der Bund die Kosten der Beseitigung übernimmt, während sonst die Gemeinden auf einem Teil der Baukosten sitzenbleiben, besteht vor Ort sogar eine hohe Bereitschaft, eine größere Entwurfsgeschwindigkeit zu tolerieren. Die Idee aus dem Dritten Entwurf, die Strecke nach Salzburg nur im Zweitstundentakt zu bedienen, und stattdessen ebenfalls alle zwei Stunden von München über Mühldorf direkt nach Linz zu fahren, dürfte kaum mit Österreich abgesprochen sein und erscheint widersinnig, da es sich für einen ICE alle zwei Stunden kaum lohnen dürfte, die für 90 bis 120 km/h trassierte eingleisige Strecke ICE-gerecht auszubauen. Nach dem Dritten Entwurf würde die Schlusszeit in München für den höchstrangigsten Zug von Wien nach München zur Weiterfahrt nach Paris 65 Minuten betragen. Ein Integraler Taktknoten München würde dagegen die Durchbindung von TGV/ICE-Zügen von Paris bis Wien ermöglichen.